Deepmind-Algorithmus an der EPFL

KI hilft bei der Kernfusion

Uhr
von Joël Orizet und lha

Forschende der EPFL und der Google-Tochter Deepmind haben einen selbstlernenden Algorithmus darauf trainiert, die Kernfusion besser zu kontrollieren. Das Konzept soll neue Impulse für die Fusionsforschung geben – und dazu beitragen, den Traum von der Energiegewinnung nach Vorbild der Sonne zu verwirklichen.

Ein Blick in den Kernfusionsreaktor TCV der EPFL. (Source: efpl.ch)
Ein Blick in den Kernfusionsreaktor TCV der EPFL. (Source: efpl.ch)

Die kontrollierte Kernfusion weckt grosse Hoffnungen. Sie verspricht, saubere und sichere Energie zu liefern – im Prinzip auf dieselbe Weise wie die Sonne, wo Wasserstoff-Atomkerne unter gewaltigem Druck zu Helium verschmelzen und dabei Energie in rauen Mengen freisetzen.

Physiker aus aller Welt versuchen seit den 1950er-Jahren, das Sternenfeuer auf der Erde nachzuahmen. Dazu braucht es extrem hohe Temperaturen von bis zu 150 Millionen Grad Celsius – zehn Mal heisser als im Inneren der Sonne. Das liegt daran, dass sich auf der Erde nicht annähernd so viel Druck herstellen lässt, wie er innerhalb unseres Sterns herrscht.

Bei solch hohen Temperaturen wechselt Wasserstoff in den "vierten Aggregatzustand": Die Atome des Gases trennen sich in ihre Bestandteile – Elektronen und Kerne – auf und es entsteht ein Plasma, wie das Max-Planck-Institut (MPI) für Plasmaphysik auf seiner Website erklärt. Ein Plasma ist elektrisch leitend und lässt sich daher durch elektrische und magnetische Felder beeinflussen. Diese Eigenschaft machen sich die Fusionsforscher zunutze. Sie setzen auf extreme Magnetfelder, die das Plasma so stark zusammendrücken, bis die Kernfusion einsetzt.

Plasma im Kernfusionsreaktor TCV der EPFL. (Source: Curdin Wüthrich / SPC / EPFL)

Ein KI-basiertes Kontrollsystem

Eine der grossen Herausforderungen besteht darin, das Plasma lange genug stabil zu halten. Sobald es die Wand des Reaktors trifft, kühlt es sich ab und die nukleare Reaktion kommt zum Erliegen. Um das zu verhindern, muss man die Einstellungen der Magnetspulen insbesondere die Spannung exakt kontrollieren. Das kann nur eine Software, die in der Lage ist, den Zustand des Plasmas minutiös zu überwachen und die Einstellungen der Magnetspulen in Echtzeit anzupassen. Das Problem: Die Aufgabe ist wesentlich komplexer, als sie vielleicht klingt.

Schematischer Aufbau des EPFL-Reaktors: Das Plasma befindet sich in einem Vakuumgefäss, das mit Magnetspulen ummantelt ist. (Source: Deepmind / SPC / EPFL)

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der EPFL entwickelten gemeinsam mit der Google-Tochter Deepmind eine neue Herangehensweise an dieses Problem. Es handelt sich um ein Kontrollsystem für Fusionsreaktoren, das auf künstlicher Intelligenz basiert. Die Forschenden testeten das Konzept im experimentellen Kernfusionsreaktor der EPFL in Lausanne und publizierten nun ihre Befunde im Fachmagazin "Nature".

Kern der Lösung ist ein selbstlernender Algorithmus. Dieser soll selbstständig herausfinden, wie man die Magnetspulen am besten steuern kann, um das Plasma in einen gewünschten Zustand zu bringen und zu halten.

Modellieren mit Plasma

Im Versuchsreaktor der EPFL sind die Forschenden mithilfe des Algorithmus in der Lage, Plasma gewissermassen zu modellieren, es also in verschiedene Formen zu bringen. Mitunter gelang es auch, unkonventionelle Plasmaformen zu erzeugen, zum Beispiel solche, die Tröpfchen, Dreiecken und Schneeflocken ähnelten. Wie die Forschenden berichten, schaffen sie es zudem, zwei separate Plasmen im selben Reaktorgefäss in der Schwebe zu halten.

Deepmind bezeichnet das Vorgehen in einem Blog-Beitrag als "plasma sculpting". So soll man untersuchen können, wie Plasma unter verschiedenen Bedingungen reagiert und so ein besseres Verständnis von Fusionsreaktoren gewinnen.

Plasma in verschiedenen Formen, von Tröpfchen bis zur Schneeflocke. (Source: DeepMind / SPC /EPFL)

Bestärkendes Lernen mit einem Twist

Für die Entwicklung des Algorithmus setzten die Forschenden auf eine bestimmte Methode des maschinellen Lernens. Sie nennt sich Deep Reinforcement Learning und ist im Prinzip eine Kombination aus zwei Teilbereichen des Machine Learnings: bestärkendes Lernen (Reinforcement Learning) und Deep Learning. Bei letzterem kommen künstliche neuronale Netze zum Einsatz.

Beim Reinforcement Learning lernt ein Algorithmus auf Basis von vorab festgelegten Regeln, selbstständig Entscheidungen zu treffen, und zwar nach dem Trial-and-Error-Verfahren. Doch für bestimmte Anwendungsfälle erweist sich der Entscheidungsfindungsprozess mit dieser Methode als zu komplex, wie es in einem Erklärstück auf "techopedia.com" heisst. In solchen Fällen kann das Hinzuziehen von neuronalen Netzen Abhilfe schaffen, weil diese besser in der Lage sind, Abschätzungen zu treffen.

Erkenntnisse für neue Reaktorkonzepte

Mit ihrem neuen Ansatz wollen die Autorinnen und Autoren des Papers zur Entwicklung neuer Reaktorkonzepte beitragen. Auf Basis der Erkenntnisse liessen sich Plasmaformen, die Sensorik, das Design der Reaktorwände, die Wärmebelastung und die magnetische Steuerung künftiger Reaktoren optimieren, um schliesslich die Gesamtleistung zu steigern.

Das ist die grosse Knacknuss der Kernfusion: Trotz jahrzehntelanger Forschung ist es noch nicht so richtig gelungen, Nettoenergie aus einem Fusionsreaktor zu gewinnen. Einen ersten Durchbruch berichteten US-Forscher vom kalifornischen Lawrence Livermore National Laboratory vor acht Jahren. Allerdings kamen dabei nur 17 Kilojoule heraus, was ungefähr in zwei AA-Batterien steckt. Und der ganze Vorgang war in weniger als einer Milliardstel Sekunde vorbei, wie damals die Wochenzeitung "Die Zeit" berichtete.

Den aktuellen Energierekord stellte erst kürzlich der weltgrösste Fusionsreaktor JET (Joint European Torus) im englischen Oxford auf. Etwa fünf Sekunden lang erzeugte der Reaktor insgesamt 59 Megajoule Energie in Form von Wärme. Gemäss einem Bericht von "scinexx.de" liegt das jedoch nach wie vor unter dem Break-even, ab dem die Kernfusion mehr Energie freisetzt als sie braucht.

Genau diesen Punkt soll ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) überschreiten. Es ist das bislang ehrgeizigste Forschungsprojekt auf dem Gebiet der kontrollierten Kernfusion. 35 Länder beteiligen sich daran, auch die Schweiz. Die Versuchsanlage liegt in Südfrankreich, etwa 60 Kilometer nordöstlich von Marseille. Sie befindet sich seit 2007 im Bau – der Betrieb dürfte jedoch frühestens Ende 2025 beginnen. Geschätzter Kostenpunkt: über 20 Milliarden Euro.

So sah es auf der Baustelle des Forschungsprojekts ITER im Oktober 2021 aus. (Source: Les Nouveaux Médias/SNC ENGAGE)

Für den Haushalt brauchbaren Strom wird ITER allerdings nicht erzeugen. Dies dürfte noch nicht einmal das geplante Nachfolgeprojekt schaffen: Unter dem Namen DEMO wollen Forschende dereinst die Kosten kommerzieller Fusionskraftwerke abschätzen. Solche könnten nach heutigem Kenntnisstand frühestens ab 2050 entstehen.

Webcode
DPF8_246820