Nachgefragt bei Lionel Moret, Head Postprocessing and Verification

So setzt Meteo Schweiz künstliche Intelligenz heute und in Zukunft ein

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von Rodolphe Koller und Übersetzung: René Jaun, ml

Lionel Moret leitet bei Meteo Schweiz ein Team, das maschinelles Lernen einsetzt. Im Gespräch gibt der promovierte Physiker Einblick in aktuelle Projekte und verrät, wo er Potenziale und Herausforderungen für die Meteorologie sieht.

Lionel Moret leitet bei Meteo Schweiz ein Team, das Machine Learning einsetzt. (Source: zVg)
Lionel Moret leitet bei Meteo Schweiz ein Team, das Machine Learning einsetzt. (Source: zVg)

Was ist Ihre Rolle bei Meteo Schweiz?

Ich arbeite seit über zehn Jahren bei Meteo Schweiz. Zunächst war ich als Meteorologe tätig, später wechselte ich in die Forschung und Entwicklung. Heute leite ich ein Team, das aus Datenwissenschaftlern und Entwicklern besteht. Unser Hauptfokus liegt auf der automatisierten Datenproduktion und Vorhersagen, wie sie beispielsweise in der Meteo Schweiz-App angezeigt werden. Diese Daten sind speziell für die App optimiert und lokal angepasst.

Welche Bedeutung hat künstliche Intelligenz bei Meteo Schweiz? Und was finden Sie daran besonders spannend?

Das Potenzial von KI und maschinellem Lernen ist enorm, und wir setzen gezielt darauf, es zu nutzen. Einige Tools setzen wir bereits ein. Zum Beispiel werden die lokalen Windvorhersagen in der mobilen App mit maschinellem Lernen und neuronalen Netzen erstellt. Generell analysieren wir systematisch, welche Vorhersagen durch KI verbessert werden können. Wir haben ein dediziertes Team zur Förderung von KI. Es koordiniert die Aktivitäten in diesem Bereich und vernetzt uns mit europäischen und globalen Entwicklern.

Im Mai 2024 führte Meteo Schweiz ICON ein, ein neues Wettermodell, das vom Supercomputer „Alps“ unterstützt wird. Worum handelt es sich dabei?

ICON (Icosahedral non-hydrostatic model framework) ist ein numerisches Wettervorhersagemodell der neuen Generation und ersetzt das bisherige Modell COSMO (Consortium for Small-scale Modeling). Diese Modelle berechnen den zukünftigen Zustand der Atmosphäre in der Schweiz basierend auf einem Ausgangszustand. Sie nutzen Beobachtungsdaten – wie Temperatur, Druck oder Wind – sowie Informationen aus angrenzenden Regionen, die vom europäischen Modell ECMWF (European Centre for Medium-Range Weather Forecasts) bereitgestellt werden.

Was unterscheidet ICON vom vorherigen Modell?

Viele Aspekte wurden verbessert, insbesondere die physikalische Darstellung, um zuverlässigere und detailliertere Vorhersagen zu ermöglichen. ICON verwendet ausserdem ein anderes Raster – Dreiecke statt Quadrate –, was zu einer besseren Abbildung des Geländes führt. Laut unserer Vergleiche ist ICON COSMO bei fast allen Wetterparametern überlegen.

Setzt ICON künstliche Intelligenz ein?

Nein, ICON nutzt kein maschinelles Lernen. Es ist ein erklärbares Modell, das auf physikalischen Gesetzen und, in geringem Masse, auf Statistik basiert. Wir möchten jedoch versuchen, ICON mit maschinellem Lernen nachzubilden. Ein solcher Emulator würde deutlich weniger Ressourcen benötigen und wäre somit deutlich schneller. Mit denselben Rechenkapazitäten könnten wir das Modell stündlich oder sogar halbstündlich laufen lassen oder mehrere Simulationen gleichzeitig durchführen, um präzisere Vorhersagen zu erstellen.

Haben Sie weitere Projekte im Bereich künstliche Intelligenz?

Ja, viele. Ein Projekt zielt darauf ab, hyperlokale Vorhersagen zu erstellen. Während ICON nur das Wetter für jeden Gitterpunkt (im Kilometermassstab) vorhersagt, trainieren wir ein maschinelles Lernmodell, das präzisere Vorhersagen für bestimmte Orte ermöglicht. Dafür nutzen wir die ICON-Daten sowie gemessene Daten an spezifischen Standorten. Wir verwenden KI auch zur Entwicklung spezialisierter Produkte, etwa für die Hydrologie oder extreme Wetterereignisse. Mit meinem Team verarbeiten wir ICON-Vorhersagen weiter, um sie zu verfeinern oder zu kalibrieren – ein Prozess, der als „Post-Processing“ bekannt ist.

In der Liste der KI-Projekte des CNAI Competence Network for Artificial Intelligence sehe ich ein Projekt zur Vorhersage von Gewitterauswirkungen. Worum geht es genau?

Die Anwendung "Coalition 4", die wir aktuell schon nutzen, soll die Auswirkungen von Gewittern – wie Blitze, Hagel, Starkregen oder Wind – für die nächsten Stunden vorhersagen. Ziel ist es, Menschen frühzeitig zu warnen, damit sie entsprechende Massnahmen ergreifen können. Diese Anwendung könnte dereinst das bestehende System von Meteo Schweiz ersetzen, das automatisierte kurzfristige Gewitterwarnungen liefert.

Wann und wie entscheiden Sie, ob Sie diese Applikation einführen?

Wir werden das neue System über eine gesamte Saison hinweg mit dem aktuellen vergleichen. Die Entscheidung hängt von den Ergebnissen ab, da Warnungen ein sehr sensibles Thema sind. Qualitativ gute Vorhersagen sind zentral, besonders da es bei maschinellem Lernen schwieriger ist, die Systemverhalten genau zu verstehen.

Wie entscheiden Sie zwischen klassischen Vorhersagemodellen und Modellen des maschinellen Lernens?

Statistische Modelle sind weniger komplex zu bedienen. Machine-Learning-Modelle sind datenabhängig und müssen daher häufig neu trainiert werden. Mit der Einführung von ICON mussten wir zum Beispiel alle Machine-Learning-Modelle, die COSMO verwendeten, neu trainieren. Physikalische Modelle ändern sich nicht, und ausserdem haben sie den Vorteil der Erklärbarkeit. Wenn man Kunden erklären kann, wie die Prognosen, an denen sie interessiert sind, zustande kommen, trägt das zu ihrem Vertrauen bei, und das ist wichtig. Daher vergleichen wir neue Machine-Learning-Modelle immer mit bestehenden Modellen. Es gibt einen enormen Hype um KI und wie bei allen Hypes besteht die Gefahr, dass sie überall eingesetzt wird, also auch an Stellen, an denen es weder notwendig noch sinnvoll ist.

Welche Herausforderungen gibt es bei der Entwicklung von Machine-Learning-Modellen?

Man könnte meinen, dass es für das Training ausreicht, dem Modell alle Daten zu liefern und es zu bitten, zu lernen. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Es muss viel Arbeit in die Vorbereitung der Daten und die Auswahl der Eingabeparameter für das Modell investiert werden. Ausserdem muss man auf die Komplexität des Modells achten: Ein komplexes Modell benötigt viele Daten. Wenn es nicht genügend Daten gibt, besteht die Gefahr des Overfitting: Das Modell ist sehr gut in seinen Trainingsdaten, aber es verallgemeinert schlecht in Daten, die es noch nie gesehen hat. Und dann ist da noch die Analyse der Parameter, die das trainierte Modell verwendet. Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass unser Modell, das die Auswirkungen von Gewittern vorhersagt, keine Radarbilder für seine Vorhersagen verwendet, haben wir ein Problem.

All diese Arbeit erfordert Datenwissenschaftler, die sich im Bereich der Meteorologie auskennen...

Tatsächlich erfordert diese Arbeit mit den Daten und die Entwicklung guter Modelle ein gutes physikalisches Verständnis. Wenn man nicht versteht, dass man es hier mit Wind und dort mit Niederschlag zu tun hat, funktioniert es nicht.

Sind Ihre ML-Projekte mit dem Launch des Alps-Supercomputers dynamischer geworden?

Wir haben nicht auf Alps gewartet, um Machine Learning zu betreiben, aber die Leistungsfähigkeit dieser Plattform ermöglicht es uns, viel ehrgeizigere Projekte durchzuführen. Meteo Schweiz war übrigens an der Definition der Anforderungen für das Design der Maschine beteiligt. Außerdem entwickelt sich durch die Tatsache, dass wir diese Art von Infrastruktur in der Schweiz haben, eine internationale Gemeinschaft und wir können uns mehr mit Forschern austauschen, die an ähnlichen Dingen arbeiten.

Welche Tools nutzen Ihre Data-Science-Teams?

Maschinelles Lernen erfordert ein breiteres Ökosystem an Tools als klassische statistische Methoden. Wir bauen eine MLOps-Plattform auf, die teilweise auf Alps und teilweise auf AWS (Amazon Web Services) basiert. Viel Aufwand fliesst in diese Infrastruktur, da der Algorithmus selbst im Vergleich zu den umgebenden Prozessen oft nur einen kleinen Teil ausmacht. Automatisierung ist entscheidend, um effizient zu arbeiten. Zum Glück gibt es bereits viele Lösungen in diesem Bereich.

 

Lesen Sie ausserdem hier, warum fehlende Vorgaben die Cloud-Migration von Meteo Schweiz hemmen.

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