Wieso die ICT-Branche ohne Frauen auf der Strecke bleibt
Der Frauenanteil in der ICT-Branche bewegt sich seit Jahren auf tiefem Niveau. Das verschärft nicht nur den Mangel an qualifizierten Fachkräften, sondern hat auch Auswirkungen auf die Art, wie IT-Systeme entwickelt werden. Warum der Wandel nur langsam fortschreitet und was Firmen tun können, erklären Expertinnen.
Die Schweizer ICT-Branche buhlt um Talente. Bis 2030 werden knapp 40 000 Fachkräfte fehlen, wie eine Studie des Instituts für Wirtschaftsstudien Basel im Auftrag von ICT-Berufsbildung Schweiz zeigt. Dadurch muss die Schweiz mit einem kumulierten Wertschöpfungsverlust von bis zu 31,1 Milliarden Franken rechnen, wie eine weitere Studie im Auftrag von Digitalswitzerland zeigt. "Dies entspricht der Wertschöpfung, welche heute die ganze Versicherungsbranche in einem Jahr erwirtschaftet", erklärt Elisa Marti von ICT-Berufsbildung Schweiz.
Der Fachkräftemangel zwingt Unternehmen, um die wenigen verfügbaren Talente zu konkurrieren. Aber gleichzeitig bleibt ein grosser Pool an potenziellen Arbeitskräften weitgehend unerschlossen: Nur 17 Prozent der ICT-Fachkräfte sind Frauen. Bei den Berufslehren sind es sogar nur 15 Prozent, sagt Marti. Zahlreiche Firmen und Verbände investieren denn auch in Initiativen, die den Frauenanteil erhöhen sollen.
Elisa Marti, Leiterin Marketing & Kommunikation bei ICT-Berufsbildung Schweiz. (Source: zVg)
So etwa die Swisscom: Die grösste Schweizer IT-Arbeitgeberin setzt auf spezifische Massnahmen wie interne Kurse, Events und Weiterbildungen, um ihre Attraktivität für Arbeitnehmerinnen zu erhöhen. Auch Google bekennt sich zur Vielfalt - beispielsweise mit "inklusivem Recruiting": Der Auswahlprozess beginnt beim Tech-Konzern erst, wenn es einen diversen Pool an Bewerbenden gibt. Eine Vielfalt an Stimmen, Hintergründen und Erfahrung führe zu besseren Diskussionen, besseren Entscheidungen und besseren Resultaten, sagt CEO Sundar Pinchai. Studien belegten denn auch, dass Unternehmen mit einer diversen Belegschaft im Sinne von Geschlechtervielfalt und ethnischer Diversität mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit wirtschaftlich erfolgreicher sind.
Der Wandel stagniert
Doch die bisherigen Initiativen laufen ins Leere: "Wir kommen nicht vom Fleck", sagt Regierungsrätin und Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walter Späh, als sie die Initiative "Women in Tech" im Mai 2024 vorstellte. Der Kanton Zürich lancierte diese unter anderem gemeinsam mit ICT-Berufsbildung Schweiz, Digitalswitzerland und Taskforce4women. Die Kampagne soll Mädchen und junge Frauen auf die verschiedenen Berufe in der ICT aufmerksam machen und ihnen die Vielfalt der Tätigkeiten sowie Facetten der Berufswelt näherbringen. Die vermittelten Botschaften stützen sich auf die Ergebnisse einer Neuromarketingstudie, wonach tief verwurzelte stereotype Rollenbilder sowie die vorherrschende Assoziation von ICT-Berufen mit Technik und Programmieren viele junge Frauen abschrecken.
Sandra Lüthi, Fachexpertin Sensibilisierung und Prävention Bundesamt für Cybersicherheit. (Source: zVg)
Dass stereotype Rollenbilder in der Praxis nach wie vor fest verankert sind, beobachtet auch Sandra Lüthi, Fachexpertin Sensibilisierung und Prävention beim Bundesamt für Cybersicherheit (BACS): "Die traditionelle Geschlechterverteilung in der Arbeitswelt ist noch stark im Gesellschaftsbild vieler Personen verankert. Rollenklischees sind sowohl in der Arbeitswelt als auch im Privaten stark vertreten. So sehen sich Frauen mit Vorurteilen der Gesellschaft und oft sogar der eigenen Berufsbildner oder künftigen Kollegen konfrontiert."
Diversität als Chance für KMUs
Auch für kleinere und mittlere Firmen sei der Mangel an Fachkräften eine Herausforderung, sagt Jasmine Schläfli. Die HR-Expertin unterstützt KMUs bei der Rekrutierung und Verbesserung ihrer Arbeitgeberattraktivität. Sie bestätigt: Der Wettbewerb um Talente ist gross – eine "fertige Fachkraft" mit allen gewünschten Fähigkeiten zu finden, ist schwierig. "Die Kandidaten und Kandidatinnen, die ich rekrutieren darf, sind selten aktiv auf Stellensuche. Man muss sie vielmehr gezielt abwerben. Zudem neigen Menschen, die nicht regelmässig rekrutieren, dazu, Mitarbeitende anzustellen, die ihnen selbst ähnlich sind. Dadurch kann insbesondere in kleineren Firmen eine gewisse Homogenität in der Belegschaft entstehen." Firmen seien daher gefordert, offen zu sein und neue Wege der Rekrutierung zu gehen.
Jasmine Schläfli, selbstständige HR-Expertin. (Source: zVg)
Um Vorurteile und blinde Flecken zu umgehen, empfiehlt Schläfli KMUs, ihre Rekrutierungsprozesse zu standardisieren. Es sei wichtig, allen Bewerbenden dieselben Fragen zu stellen und im Voraus zu definieren, nach welchen Kriterien man entscheidet. So könne man sicherstellen, dass die für eine offene Stelle beste Person eingestellt wird und eine Entscheidung von Fakten und weniger von Sympathien und Emotionen geleitet ist.
Wolle man Frauen gezielt ansprechen, müsse man sich auch Fragen rund um Arbeitsbedingungen stellen: "Für Frauen steht oft weniger das Gehalt im Vordergrund. Sie fragen sich eher: Wie stark kann ich mich einbringen? Wie flexibel sind die Arbeitszeitmodelle? Gibt es die Möglichkeit zu Jobsharing?" Für kleinere Firmen stellen solche tiefgreifenden Veränderungen mitunter eine grosse Herausforderung dar, während grössere Unternehmen Bedürfnisse nach Flexibilität durch die Masse an Mitarbeitenden eher abdecken können, wie Schläfli betont.
Doch es reiche nicht, die Strukturen stillschweigend anzupassen - entscheidend sei, diese Veränderungen auch aktiv zu kommunizieren. Es gehe darum, sich als Firma zu fragen, wie man sich präsentiert. Das fange etwa bei der Sprache an, in der Stelleninserate formuliert sind. Dass man nicht nur die männliche Form verwenden sollte, sei der einfachste Teil. "Es gibt die Tendenz, dass Frauen sich nur bewerben, wenn sie alle Anforderungen erfüllen oder übertreffen. Bei Männern ist diese Hemmschwelle sehr viel tiefer." Firmen täten demnach gut daran, möglichst wenig starre Anforderungen aufzulisten. Besser sei es, die Aufgabenbereiche und erforderlichen Stärken zu umschreiben. Damit können sich viele Frauen besser identifizieren, wie Schläfli beobachtet.
Trotz der Herausforderungen sieht Schläfli in der Inklusion von Frauen in der ICT-Branche eine "Riesenchance", dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Sie beobachte auch, dass viele Arbeitgeber offen seien und anfingen, umzudenken. "Eine Mehrheit erkennt den Wert von diverseren Teams: Je durchmischter und diverser, desto wertvoller und nachhaltiger sind die Zusammenarbeit, die Produkte und die Dienstleistungen, die man produziert. Dieses Denken ist da."
Nicht zuletzt stelle der tiefe Frauenanteil nicht nur im Hinblick auf den Fachkräftemangel ein Problem dar: "In der IT-Branche ist die Hälfte der Bevölkerung klar unterrepräsentiert. Wenn Apps, Software und auch künstliche Intelligenz nur mit einseitigen Daten und Sichtweisen gefüttert werden, fehlt die notwendige Repräsentation – das ist eine klare Herausforderung."
Doch letztlich nützen alle Bemühungen nichts, wenn es nicht genug Frauen auf dem Stellenmarkt gibt, sagt Schläfli. Es sei daher essenziell, früh anzusetzen und bereits jungen Frauen aufzuzeigen, was die ICT-Branche für Möglichkeiten biete, und Vorurteile abzubauen. Auch das Potenzial von Quereinsteigerinnen und Menschen mit Migrationshintergrund sollte nicht übersehen werden.
Ansetzen beim Nachwuchs
Dem Ziel, junge Frauen für die Technik zu begeistern, hat sich etwa die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) mit dem Nachwuchsförderprogramm Swisstec Ladies verpflichtet. Das Programm bietet Mädchen und jungen Frauen zwischen 14 und 19 Jahren die Möglichkeit, Wissenschaft und Technik zu erforschen. Dabei werden sie von erfahrenen Mentorinnen betreut und erhalten einen Einblick in deren Berufsleben. Damit will die SATW Stereotypen abbauen und Eigenständigkeit und Selbstvertrauen von jungen Frauen fördern, wie Programmleiterin Sandra Weidmann erklärt.
Sandra Weidmann, Programmleiterin von Swiss TecLadies. (Source: zVg)
"Wir haben leider viel zu wenig Informatikerinnen in der Schweiz. Das merkt man etwa in den Berufsschulklassen, wo es fast keine Mädchen gibt. Aber für die Probleme, die wir in Zukunft haben werden, brauchen wir gemischte Teams. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man sie möglichst früh unterstützt und ihnen zeigt, dass ein technischer Beruf durchaus auch etwas für Frauen ist", sagt Marianne Marti, die seit zwei Jahren als Mentorin tätig ist. Die Softwareentwicklerin und Geschäftsführerin erlebt aus erster Hand, wie junge Frauen durch stereotype Rollenvorstellungen benachteiligt werden.
Studien zeigten, dass Frauen schlechter in Mathematik oder technischen Fächern abschneiden, wenn ihnen eingeredet wird, sie seien darin weniger talentiert als Männer. Würden solche Vorurteile jedoch nicht erwähnt, gäbe es keine Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern. "Mit dem Mentoringprogramm können wir dem entgegenwirken und den Frauen in einem geschützten Umfeld zeigen: Es funktioniert, du musst kein Mann sein für diesen Beruf." Dieses Jahr führte die SATW zudem erstmals ein Feriencamp durch, in dem 33 Mädchen zusammen unterschiedliche Facetten der Technik erleben konnten.
Marianne Marti, Mentorin Swiss TecLadies. (Source: zVg)
Die vielfältigen Programmpunkte reichten von einer Exkursion nach Brienz mit einem Geografen über Workshops mit VR-Brillen und Robotern bis hin zu einem Einblick in die Medizintechnik bei Hamilton. "Die Idee war, dass wir für die Jüngeren ein Angebot haben, wo das Erlebnis im Vordergrund steht. Wir schaffen Schlüsselmomente, an die sie sich erinnern sollen, wenn es um die Berufswahl geht."
Es bleibt abzuwarten, ob sich solche Massnahmen als nachhaltig erweisen. Will die Schweiz die Fachkräftelücke schliessen und eine Grundlage für ein zukunftsfähiges und inklusives Innovationsumfeld schaffen, sind aber gewiss Bemühungen auf allen Ebenen erforderlich.
Mehr zum Förderprogramm der SATW erfahren Sie hier im Interview mit Programmleiterin Sandra Weidmann und im Videobeitrag über einen Besuch beim SwissTec Ladies Camp in Chur:
(Source: Netzmedien)