Europa kämpft um das digitale Überleben
An der diesjährigen Infrastrukturtagung des Uvek haben Politiker, Wissenschaftler und Wirtschaftsführer über die Digitalisierung diskutiert. Bundesrätin Doris Leuthard zeichnete eine positive Zukunft. Skeptischer gab sich EU-Kommissar Günther Oettinger.
Seit Monaten befassen sich unzählige Events mit der Digitalisierung in der Schweiz. Einige zeigen Trends auf, andere preisen das Silicon Valley an und wieder andere dienen als Plattform für Wirtschaftslobbyismus. Dann gibt es Veranstaltungen, welche die Entwicklung von verschiedenen Seiten beleuchten wollen. So auch die jährliche Infrastrukturtagung des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek), die sich Ende letzter Woche des Megatrends schlechthin angenommen hat.
Wissenschaftler der ETH Zürich, Wirtschaftskapitäne wie Ruedi Noser und Ivo Furrer von Swiss Life Schweiz und Politgrössen wie EU-Kommissar Günther Oettinger waren der Einladung des Uvek an die ETH nach Zürich gefolgt.
Digitalisierung als Chance für die Schweiz
Uvek-Vorsteherin und Bundesrätin Doris Leuthard erläuterte in ihrer Eröffnungsrede die Bedeutung der Digitalisierung für die Schweizer Infrastruktur.
Leuthard wies darauf hin, dass der Ausbau der Infrastruktur in den Bereichen Wasser, Schiene, Strom und Telekommunikation aufgrund der begrenzten Fläche des Landes kaum mehr möglich sei. In Folge müssten bestehende Infrastrukturen optimiert werden. Hierbei helfe die Digitalisierung. Diese beginnt mit Kleinigkeiten, wie Leuthard anhand einer Zugfahrt veranschaulichte. Billette könnten heute via App gekauft werden. Doch bei der Sitzplatzreservation gebe es eine "Zetteliwirtschaft", erklärte Leuthard. Immer noch würden gebuchte Plätze mit Papier ausgewiesen.
Die Bundesrätin betonte, keine Freundin der Regulierung zu sein. So überliess das Uvek den Ausbau der Glasfaser-Infrastruktur weitestgehend dem freien Markt. Um Investitionen zu fördern, wie die Ministerin erklärte. Aber: Nun seien Standards nötig, um Wildwuchs zu vermeiden. Auch in einem anderen Bereich drohen staatliche Eingriffe: ausgerechnet bei den personenbezogenen Daten. "In meinem Departement kamen wir zum Schluss, dass es eine Schweizerische Datenschutzregelung braucht", sagte Leuthard. Personenbezogene Daten gehörten den Bürgern und nicht irgendeiner Firma, stellte sie klar.
Hohe Abdeckung
Die Digitalisierung bedarf einer gut ausgebauten Daten- und Energie-Infrastruktur. Beim Ausbau der Bandbreite sei die Schweiz sehr gut unterwegs, betonte die Bundesrätin. Die Abdeckung betrage fast 100 Prozent.
Ohne flächendeckendes Breitband wären Zukunftsprojekte wie autonome Fahrzeuge überhaupt nicht denkbar. Im Mai demonstrierte die Swisscom auf einer Probefahrt durch Zürich den Stand der Technik bei PKWs, die Post will kommendes Frühjahr selbstfahrende Busse testen. In einem Interview im Frühjahr dieses Jahres erklärte der SBB-Geschäftsführer, dass er in autonomen Fahrzeugen eine Chance für die Schweizerischen Bundesbahnen sieht. Hierfür erhielt er Lob von der Bundesrätin: "Wenn sich Herr Meyer von den SBB mit selbstfahrenden Autos beschäftigt, dann ist er auf dem richtigen Weg", befand Leuthard.
Unterstützung aus der Wirtschaft und Forschung wichtig
Sie fasste zusammen, dass die ICT in der Schweiz bereichsübergreifend und vernetzt ausgebaut und angewendet werden müsse. Neben der Förderung der Infrastrukturen stünden die digitale Vernetzung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Wert- und Effizienzsteigerung für den Werkplatz Schweiz im Zentrum. Die Strategie des Bundesrates für eine Informationsgesellschaft soll zu einer eigentlichen Digitalisierungsstrategie weiterentwickelt werden.
Nur mit dem Umbau in eine digitale Wirtschaft und Gesellschaft bleibe die Schweiz wettbewerbsfähig. In diversen Bereichen, etwa im Gesundheitswesen oder in der Mobilität, sei aber noch grosser Aufholbedarf. Die Schweiz sei top aufgestellt bezüglich Infrastruktur, müsse aber schneller agieren. Wichtig sei die Unterstützung aus der Wirtschaft. "Ich brauche Ihre Hilfe, damit wir dorthin kommen", bat die Bundesrätin die anwesenden Firmenvertreter und Forscher.
Die wissenschaftliche Sicht
Diese unterstützen die Digitalisierung bereits, wie Jürg Leuthold, Professor und Wissenschaftler im Departement Informationstechnologie und Elektrotechnik der ETH Zürich, aufzeigte. Die Bandbreite ist in 15 Jahren um den Faktor 10’000 gewachsen, wie der Forscher sagte. Die Bandbreite, beziehungsweise deren Bedarf werde noch weiter ansteigen. Spätestens wenn Sensoren von selbstfahrenden Autos ihre Daten austauschen müssen. Für Leuthold ist klar: Die Kommunikation steht am Anfang von Innovationen.
Das technische Rückgrat bildet die Glasfasertechnik. Leuthold nannte die haarfeinen, durchsichtigen Fäden ein Wunder. Heutzutage könnte via Glasfaser in einer Sekunde ein Petabyte Daten versandt werden. Die hohen Kapazitäten seien auch nötig, da der Datenverkehr weltweit exponentiell wachse. Gemäss jüngsten Zahlen von Netzwerkspezialisten Cisco wächst der Datenverkehr dieses Jahr um 23 Prozent.
Damit die Kapazität beim Mobilfunk nicht an ihre Grenzen gelangt, arbeiten die Wissenschaftler an der ETH an Übertragungstechniken ausserhalb des gängigen Frequenzbands der Telkos. Einen anderen Weg geht die Übertragung mit der MiMo-Antennentechnik. Hier werden mehrere Antennen zu einem Array zusammengefasst. Diese Anordnung skalierten die Forscher im Labor drastisch herunter. Künftig könnten Mikrochips Antennen-Arrays beherbergen.
Eine weitere Komponente der Digitalisierung ist die Cloud. Nicht jene am Himmel irgendwo, sondern konkret in Rechenzentren in der Nähe dicker Überlandleitungen. Rechenzentren verbrauchen grosse Energiemengen – unabhängig von ihrer Energieeffizienz. Das Problem sind leistungsstarke Server. Die ETH erforsche energieeffizientere Lösungen.
Nicht die Butter vom Brot nehmen lassen
Von all dem technischen Fortschritt liess sich ein Referent kaum bis gar nicht beeindrucken. Im Gegenteil: EU-Kommissar für digitale Wirtschaft, Günther Oettinger, warnte, beschwor und mahnte eindringlich. Denn die europäische Spitzentechnologie verkomme in der neuen, digitalen Wirtschaftsordnung zur Commodity.
Je näher europäische Hersteller mit Produkten und Dienstleistungen an den Kunden heranrückten, desto schlechter würden sie werden. Die lukrativen Werte – die Daten – schöpfen indes andere ab, sagte Oettinger. Besonders die USA entwickelten sich zu einer gewaltigen Konkurrenz. Sie nutzten ihre digitale Überlegenheit für eine wirtschaftliche. "Für Europa besteht eine digitale Überlebensgefahr", brachte es Oettinger auf den Punkt.
"In vier Jahren wird im Vorstandssaal Apples ein Auto stehen."
Die nächsten Branchen, die laut Oettinger unter die Räder der Digitalisierung kommen werden, sind der Bankensektor und die Automobilbranche. Als ehemaligen Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Baden-Württemberg, in dem S-Klasse und 911er produziert werden, dürfte Oettinger das Schicksal der deutschen Autobauer nahe gehen.
Dieses Jahr habe er eine Testfahrt in einem selbstfahrenden Auto von Apple mitmachen können, erzählte der EU-Kommissar. In der Firmenzentrale betrachtete er die aufgereihten Apple-Produkte und zog den logischen Schluss. Ich schwöre Ihnen", rief Oettinger dem Publikum in der ETH entgegen, als habe er die Zukunft bereits gesehen: "In vier Jahren wird im Vorstandssaal Apples ein Auto stehen."
Digitalisierung wirkt sich (noch) nicht auf BIP aus
Im Vergleich zum emotionalen und pointierten Auftritt Oettingers wirkte das Referat von Samuel Rutz, vom wirtschaftsnahen Think Tank Avenir Suisse, nüchtern. In seiner Analyse kommt Avenier Suisse zu dem Schluss, dass sich die Digitalisierung in der Entwicklung des BIP nicht widerspiegle. "Die Produktivitätsstatistik bleibt unbeeindruckt von der Digitalisierung", sagte Rutz.
Gründe gibt es verschiedene, mutmasste der Analyst. Eventuell werde die Digitalisierung schlicht überschätzt. Die Zeit der wirtschaftlich rasanten Fortschritte ist vorbei und die Vorzüge der Digitalisierung werden sich erst langsam abzeichnen. Andere hofften auf den wirtschaftlichen Aufschwung, ausgelöst durch die Digitalisierung.
"Wenn man mit einer Idee die Welt verändern will, wird man bestraft"
Apropos Wirtschaft: In einem Podiumsgespräch diskutierten Dieter Bambauer, Konzernleitungsmitglied der Schweizerischen Post, Nationalrat Ruedi Noser, Ivo Furrer, CEO von Swiss Life Schweiz und Yves Zumwald, Interimschef bei Swiss Grid über die Digitalisierung aus Unternehmenssicht. Sie liessen den streckenweise überforderten Moderator von der ETH kaum zu Wort kommen, was der Debatte gut tat.
Besonders Noser und Furrer taten sich mit Wortmeldungen hervor und stellten sich immer wieder den Fragen des Publikums. Noser forderte eine Steuerreform, denn die aktuelle Steuergesetzgebung sei geradezu Start-up-feindlich. "Wenn man mit einer Idee die Welt verändern will, wird man bestraft", sagte Noser.
Die nächste Infrastrukturtagung findet am 28. Oktober 2016 an der EPF in Lausanne statt.