Was wirklich hinter der Anonymous-Maske steckt
Sie ist das Gesicht der Hacktivisten von Anonymous. Die Maske der Anonymität zeigt jedoch das Antlitz einer ganz bestimmten Person: Vor rund 400 Jahren scheiterte sie und wird seitdem jedes Jahr auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Die Haut hat einen blassen, manchmal ungesund grünen Farbstich. Die leeren, halb zugekniffenen Augen sowie die tiefschwarzen Augenbrauen darüber und der Knebelbart darunter stechen so noch krasser hervor. Die markanten Wangenknochen brechen die Monochromie mit einem grellen Rosa. Die Lippen sind zu einem Lächeln gepresst, das - wie die Maske als Ganzes - etwas zu verbergen scheint.
Es ist das Gesicht, das immer erscheint, wenn die Hacktivisten von Anonymous sich zu Wort melden. Die Maske ist zum Symbol des anonymen Protests der Bewegung geworden. Dabei zeigt sie aber keineswegs eine zufällige Anordnung von Gesichtszügen, sondern eine ganz bestimmte Person. Verfolgt man diese Spur rund 400 Jahre zurück, führt sie zu einem anarchistischen Kult-Comic, einer jährlichen Gedenkfeier, einem revolutionsbereiten Katholiken und seinem gescheiterten Sprengstoffattentat auf den britischen König James I.
Das Gesicht des anonymen Protests
Die erste Verbindung zwischen der Anonymous-Gruppe und dieser Maske geht auf das Jahr 2008 zurück. Damals nutzten einzelne Gruppenmitglieder die Maske, um ihre Identität bei öffentlichen Protesten gegen Scientology zu verbergen.
Es war eine der ersten grösseren öffentlichen Aktionen von Anonymous. Die Gruppierung entstand nur wenige Jahre zuvor auf dem Internetforum 4chan. Eine klare Leitung gab es nie und gibt es auch heute nicht. Stattdessen handelt es sich um ein Kollektiv von mehr oder weniger Gleichgesinnten. Öffentliche Protestaktionen und Hacks werden folglich auch nicht immer in Absprache mit anderen innerhalb der Gruppierung ausgeübt. Wer Teil der Bewegung sein will, ist Teil der Bewegung.
Der Kern des Protests ist der Kampf gegen staatliche Zensur und allgemein gegen Internetzensur. Zuweilen richten sich die Aktionen auch gegen Menschenrechtsverletzungen, überzogene kommerzielle Interessen und Diktaturen. Dabei bleibt es keineswegs nur bei maskierten Kundgebungen. Ende 2010 etwa entschieden sich verschiedene Finanzinstitute (darunter auch die Postfinance) aufgrund politischen Drucks aus den USA, Geldüberweisungen an Wikileaks zu blockieren. Die Whistleblower-Website hatte zuvor Depeschen US-amerikanischer Botschaften veröffentlicht. Infolgedessen legte Anonymous die Websites der Finanzinstitute - darunter auch Visa, Mastercard und Paypal - mit DDoS-Attacken lahm.
Die Hacktivisten sind nicht die einzigen, die im Rahmen von Protesten diese spezifische Maske nutzen. Heutzutage ist das blassgrüne, markante Gesicht mit den leeren Augen quasi zum Gesicht des Protests geworden und folglich bei fast jeder Demonstration zu sehen.
Das Gesicht des Comic-Anarchen
Ein Zufall ist dies nicht. Die Maske, die Anonymous und Co. nutzen, ist kein eigenes Design. Sie wird seit 2005 in Massen produziert. Es handelt sich nämlich um Merchandise zum Film "V for Vendetta". Der Film basiert auf dem gleichnamigen Comic von Alan Moore und David Lloyd aus dem Jahr 1982 - das Ende der Geschichte wurde allerdings erst 1989 publiziert.
Der Comic erzählt die Geschichte des Anarchisten V, der gegen eine fiktive, faschistische Version des Vereinigten Königreichs kämpft. Sein Gesicht ist nie zu sehen - er verbirgt es stets hinter ebendieser Maske. Sein Ziel ist es, den Staat zu stürzen und das Volk davon zu überzeugen, den Faschismus zugunsten der Anarchie aufzugeben.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Symbol des Kampfs unter anderem gegen den Kapitalismus selbst ein kapitalistisches Erzeugnis ist. Warner Bros. Entertainment, das Studio, das die Filmrechte besitzt, verdient an jeder offiziell verkauften Maske. Unterdessen gibt es für alle Hacktivisten in spe jedoch auch zahlreiche nicht offizielle, aber (nahezu) identische Alternativen.
"Es ist ein bisschen peinlich, ein Unternehmen zu sein, das von einer Anti-Corporate-Demonstration zu profitieren scheint", sagte Moore 2011 gegenüber "The Guardian". "Und doch lehnen sie Geld nicht gerne ab - es widerspricht all ihren Instinkten." Diesen Umstand fände er jedoch eher lustig als lästig.
Was denken die Comic-Autoren über die heutige Popularität ihrer Schöpfung? In einem Interview mit "BBC" sagte Lloyd, er freue sich darüber, dass die Maske zu einer weit verbreiteten Marke und einem Symbol geworden sei, mit dem man gegen Tyrannei protestieren könne. Denn "es scheint ziemlich einzigartig zu sein, dass eine Ikone der Populärkultur auf diese Weise verwendet wird."
Das Original im Comic von Alan Moore und David Lloyd. (Source: Netzmedien)
"Sie verwandelt Proteste in Aufführungen", sagte Moore gegenüber "The Guardian". "Die Maske ist sehr opernhaft; sie schafft ein Gefühl von Romantik und Drama." Ein Gefühl, dass Protestmärsche für gewöhnlich nicht vermitteln. Moore beschreibt diese Märsche als notwendig, aber auch als zermürbend. "Es ist etwas, das getan werden muss, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass es ungeheuer unterhaltsam ist - obwohl es das eigentlich sein sollte." In einem anderen Interview sagte er auch, dass er ein wohltuendes inneres Glühen empfand, als er die Maske damals bei den Protesten gegen Scientology erstmals sah.
Das Gesicht von Guy Fawkes
Bei der Erschaffung des Comics und der Hauptfigur hatten die Autoren ein klares historisches Vorbild vor Augen. V ist die Wiederauferstehung des britischen Verschwörers Guy Fawkes. Zusammen mit seinen Mitverschwörern wollte Fawkes das House of Lords und auch den König James I. in die Luft jagen. Ihr Ziel war es, dass wieder ein katholischer Monarch den Thron besteigt. Zu diesem Zweck hatten die Verschwörer mehrere Fässer mit Schiesspulver unter dem Parlamentsgebäude gestapelt - weswegen das versuchte Attentat heutzutage als Pulververschwörung ("Gunpowder Plot") bezeichnet wird. Zur Zündung kam es nie; ein anonymer Hinweis vereitelte das Attentat. Fawkes, der zu dem Zeitpunkt alleine das Pulver bewachte, wurde verhaftet, gefoltert und wenige Monate später hingerichtet.
Seitdem erinnert ein Gedenktag an den 5. November 1605, an jenen Tag, an dem Fawkes verhaftet und die Ermordung des Königs verhindert wurde. Zu den Feierlichkeiten gehört es auch, Bildnisse von Fawkes auf grossen Scheiterhaufen zu verbrennen. Der Brauch existiert noch immer - aber die politischen und anti-katholischen Untertöne sind in den vergangenen Jahrhunderten mehrheitlich verloren gegangen.
Ein zeitgenössischer Kupferstich des niederländischen Künstlers Crispijn van de Passe der Ältere zeigt Guy Fawkes (3.v.l.) mit seinen Mitverschwörern. (Source: Wikimedia Commons / Crispijn van de Passe der Ältere / Public Domain)
Von Realität zu Fiktion zurück in die Realität. Alan Moore und David Lloyd wollten mit ihrem Comic Fawkes nach eigenen Angaben das Image geben, das er all die Jahre verdient habe. "Wir sollten ihn nicht jeden 5. November verbrennen, sondern seinen Versuch, das Parlament in die Luft zu jagen, feiern!", schrieb Lloyd in seinen Notizen. Das ist wohl die allem zugrunde liegende Bedeutung der Guy-Fawkes-Maske: Sie ist das Symbol des absoluten Vertrauensverlustes in den eigenen Staat und die daraus resultierende Notwendigkeit, selbst zu handeln - auch wenn dies Extreme erfordert.
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